Zum Inhalt springen

Schuldgefühle und Narzissmus

Du bist gerade um etwas gebeten worden, wofür Du jedoch nicht über genug Ressourcen verfügst. Vielleicht keine Zeit, zu müde und nicht genug Energie, vielleicht geht es um etwas, was Du nicht gerne machst. Du hast mit Bedauern "Nein" gesagt und hast sogar Erklärungen geliefert, warum Du nicht kannst, damit die andere Person Verständnis zeigt. Aber dann merkst Du, dass Deine Erklärung nichts gebracht hat. Die Person ist enttäuscht oder sogar sauer. In dem Moment spürst Du eine starke Anspannung, als ob eine große Last deinen Körper zerdrücken würde, sodass der Atem schwer fällt. Das ist das Schuldgefühl von dem "Nein" Sagen, das mit den folgenden Gedanken einhergeht: "Jetzt bin ich ein schlechter Mensch, weil ich Dich verletzt habe! Aber nein, ich bin kein schlechter Mensch! Ich bin ein Guter! Ich mache alles, was Du willst, damit Du merkst, wie gut ich bin!". Und somit änderst Du Deine Meinung und sagst dem Anderen, dass Du doch das machen kannst, was er will. Und Du tust es. Und der Andere ist wieder gut gelaunt, vielleicht sagt er sogar "Danke!". Und dennoch bist Du sauer auf Dich selbst, weil Du schon wieder die eigenen Grenzen verletzt hast und etwas gemacht hast, was Du nicht wolltest.

Und jedes Mal das Gleiche. Du wirst immer müder, hast immer weniger Ressourcen. Das kommt allerdings nicht von wirklich guten Taten. Ganz im Gegenteil, gute Taten sind wunderbar, sie bringen viel Energie und Freude. Dafür sollte man sie jedoch ehrlich meinen, aus dem ganzen Herzen und mit Liebe, und nicht aus Angst vor Ablehnung oder aus dem Wunsch, sich als "ein guter Mensch" zu zeigen. Die Motivation für eine gute Tat soll die Freude des Anderen und der Wunsch, sein Leben etwas leichter zu machen, sein, nicht der Fokus auf sich selbst sowie die Bestätigung von außen, dass man "ein guter Mensch ist". Immer zu zeigen, "wie gut man ist", ist narzisstisch. Das heißt, es geht um das eigene Bild nach außen. Das ist eine Kompensation des Selbstwertgefühls, das unter überflüssigen Schuldgefühlen gelitten hat.

Schuld ist eine erlernte, soziale Emotion, die die Funktion hat, das Beziehungsverhalten zu regulieren. Wenn man etwas Schlechtes gemacht hat, kommt das Schuldgefühl mit dem Impuls einher, sich zu entschuldigen und es wieder gut zu machen. Das Schuldgefühl hilft einem, sozial und sich den Folgen des eigenen Verhaltens bewusst zu sein und die Beziehungen zu anderen Menschen aufrechtzuerhalten.

Leider befindet sich das Schuldgefühl im engen Zusammenhang mit dem Selbstwertgefühl. "Ich bin ein schlechter Mensch" ist in der Regel eine schmerzhafte Überzeugung. Wenn man emotionsfähig und empathisch ist, möchte man kein "schlechter Mensch" sein, sondern man möchte akzeptiert werden (so wie Kinder von ihren Eltern unbedingt akzeptiert werden möchten). Deswegen wurde das Schuldgefühl als Erziehungsmittel häufig missbraucht. Viele Menschen sind durch überflüssige Schuldzuweisungen erzogen worden, wenn sie den Erwartungen nicht entsprochen haben. Das heißt, sie wurden mit der falschen Aussage "Du bist schlecht!", anstatt "Du hast etwas Schlechtes gemacht!" erzogen worden. "Du bist schlecht" ist global, stabil und von dem eigenen Verhalten unabhängig. Diese Aussage führt zu der Überzeugung "Ich bin von vornherein schlecht, wenn der Andere mit mir unzufrieden ist". Was man im Rahmen der Beziehungserfahrungen mit den Bezugspersonen in der Kindheit gelernt hat, projiziert man später als Erwachsene auf die Anderen. Somit führt das zum Schutzmechanismus, die Enttäuschung der Anderen zu vermeiden, damit man die eigene, tiefsitzende Überzeugung "Ich bin ein schlechter Mensch" abermals nicht bestätigt bekommt.

In der Praxis habe ich häufig sehr erschöpfte Menschen getroffen, die stets "ein guter Mensch sein" und Andere nicht enttäuschen wollten. Diese Menschen konnten irgendwann den eigenen Körper, die eigenen Bedürfnisse sowie die eigene Erschöpfung nicht mehr wahrnehmen, sie wahren fast ausschließlich mit der Meinung Anderer beschäftigt. Interessanterweise habe ich bei diesen Menschen eine unterschwellige Unzufriedenheit mit Anderen gespürt, da die Anderen kein Feedback, keine Wertschätzung, keine Dankbarkeit und kein erwartetes Verhalten meinen Patienten gegenüber zeigten. Ich habe sie dann gefragt:

- Kennen Sie den Unterschied zwischen einer ehrlichen guten Tat und einer, die aus Angst vor Ablehnung kommt? Eine gute Tat aus dem tiefen Herzen erwartet kein "Danke", da die Belohnung bereits durch die Freude von der guten Tat selbst kommt. Wenn Sie jedoch die gute Tat begehen, um Wertschätzung zu bekommen und eigene Schuldgefühle zu vermeiden, wird Sie die fehlende Dankbarkeit traurig machen, da das ihre erwartete Belohnung war.

- Aber der Andere muss doch "Danke" sagen! antwortet die Patientin, irritiert.

- Es wäre schön, aber muss er nicht. Jeder kann machen was er will. Sie sind frei, Hilfe zu leisten. Der Andere, wenn er kann, wertschätzt sie und bedankt sich. Er kann sie jedoch als selbstverständlich nehmen und nichts sagen. Wie reagieren Sie dann? Wenn Sie enttäuscht werden, bedeutet das, dass Sie für ihre Hilfe eine Belohnung erwartet haben, auch wenn diese immateriell ist.

Eine gute Tat aus Schuldgefühl und Angst, "Nein" zu sagen, geht mit der Erwartung einer Selbstbestätigung einher. Was kann man tun, wenn man nicht "Nein" sagen kann? Das "Nein" Sagen an sich ist nicht schwer, dafür braucht man nur ein paar Wörter auszusprechen. Das Schwere ist, das darauf folgende Schuldgefühl, vielleicht sogar die Enttäuschung der Person, aber vor allem das ausgelöste "Kopfkino" auszuhalten. In der Therapie wird die Patientin darin unterstützt, das eigene Schuldgefühl auszuhalten, ohne darauf einzugehen.

Und wie kann man die Suche nach der Selbstbestätigung behandeln, dass man "ein guter Mensch" ist? Die Veränderung des narzisstischen Verhaltens bedeutet, sich selbst kennenzulernen und zu akzeptieren, so wie man ist. Man könnte akzeptieren, dass man nicht immer großzügig oder hilfsbereit ist, oft ist man beschäftigt, müde, reizbar, energielos, demnach schaft man nicht immer, "ein guter Mensch" zu sein. Das könnte man erstreben, ohne Selbstbestätigung zu suchen. Weiterhin sollte man sich daran gewöhnen, dass man nicht von allen gemocht wird. Selbst diejenigen, die uns mögen, denken nicht immer nur Gutes über uns. Außerdem basieren die menschlichen Beziehungen nicht auf Perfektion, sondern auf Verletzlichkeit, Akzeptanz und Offenheit. Wenn man die eigenen Grenzen einhält und "Nein" sagt, obwohl es einem Leid tut, wird es leichter Prioritäten zu setzen. Dadurch kann man gute Taten aus dem ganzen Herzen begehen, dann wenn die Möglichkeit besteht, ohne Dankbarkeit und Selbstbestätigung dafür zu erwarten, dass man "ein guter Mensch" ist.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert